Paul Hindemith: Cardillac
1996 / Wergo / Doppel-CD
RSO Berlin
Es gibt wohl kaum einen Künstler, dem das Cardillac-Syndrom völlig fremd ist. Jedes Kunstwerk birgt einen Teil der Persönlichkeit des Erschaffers in sich und so muss der Künstler notgedrungen einen Teil seines Selbst hergeben – im schlimmsten Fall an Fremde, von denen er nicht weiß, wie sie damit umgehen werden. Was einen Musiker oder Dirigenten betrifft, scheint die Lage auf den ersten Blick anders zu sein, ist doch das gespielte Musikstück auch für ihn selbst verloren, sobald es zu Ende ist. Aber gerade in der Interpretation lag ein großer Teil Persönlichkeit, die er einem Publikum offenbaren muss und er hat – anders als ein Maler oder Dichter – nach der Darbietung keine Chance zur Nachbesserung. Ein gespieltes Konzert ist vollendet, mit all seinen Höhepunkten und Schwächen.
Nun möchte man meinen, dass bei einer CD-Aufnahme mit moderner Technik immer die Möglichkeit des Zusammenschneidens und Verbesserns gegeben ist. Doch auch hier muss der Musiker irgendwann sein Produkt frei geben. Und da sich jeder Mensch im Laufe seines Lebens entwickelt, kann es sein, dass ein Musiker Jahre später dasselbe Werk völlig anders interpretiert und sich sogar von seiner eigenen, früheren Aufnahme distanziert. Wie viele Dirigenten haben beispielsweise die Symphonien Beethovens mehrmals im Laufe ihres Lebens aufgenommen!
Paul Hindemiths Oper Cardillac nach E. T. A. Hoffmanns Novelle Das Fräulein von Scuderi wurde am 9. November 1926 in der Dresdner Semperoper uraufgeführt. Nach dem zweiten Weltkrieg arbeitete Hindemith sein Werk um. Die zweite Fassung erlebte am 20. Juni 1952 am Stadttheater Zürich ihre erste Aufführung. Obwohl die Presse hart in die Kritik ging mit der Musik (die „kakophone Gesamthaltung“ der Musik hätte nichts mit der Gefühlswärme des Stoffes zu tun), wurde die Oper ein großer Erfolg. Die Spielzeit 1926/27 zählt 13 (!) weitere Inszenierungen der Oper. Das Publikum ließ sich vom Thema der Oper und ihren pulsierenden Rhythmen mitreißen. Interessant ist auch die Orchesterbesetzung mit nur wenigen Streichern (sechs Geigen und jeweils vier Bratschen, Celli und Kontrabässen). Dafür sind alle Holz- und Blechblasinstrumente vertreten (allerdings nur in einfacher bzw. zweifacher Besetzung).
Gerd Albrecht spielte mit dem Radio-Symphonie-Orchester Berlin und dem RIAS-Kammerchor die erste Fassung der Oper von 1926 ein. Solisten sind: Siegmund Nimsgern (Goldschmied Cardillac), Verena Schweizer (Tochter), Robert Schunk (Offizier), Harald Stamm (Goldhändler), Josef Protschka (Kavalier), Gabriele Schnaut (Dame), Andreas Schmidt (Führer der Prevote).