Paul Hindemith: Sancta Susanna / Drei Gesänge
1996 / Wergo
Radio-Symphonie-Orchester Berlin, RIAS Kammerchor. Solisten: Helen Donath, Janis Martin, Gabriele Schnaut, Gabriele Schreckenbach
Vor knapp 100 Jahren weigerten sich Dirigenten, Paul Hindemiths Einakter Sancta Susanna aufzuführen und Intendanten ließen die Zuhörer vor der Premiere unterschreiben, dass sie die Darbietung nicht stören oder unterbrechen würden. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts entfacht das Werk dagegen beim Publikum Stürme der Begeisterung. Gerd Albrechts 1996 bei Wergo erschienene Einspielung mit dem Radio-Symphonie-Orchester Berlin wurde mit dem Prix Caecilia ausgezeichnet.
Man ahnt es schon: Sancta Susanna gehört zu den größten Skandalstücken der Musikgeschichte. Schuld an dem Aufruhr ist in erster Linie der Inhalt, der von gläubigen Christen als anstößig empfunden wurde. Animiert durch die Entdeckung eines Liebespaares im Klostergarten und verblendet durch die Erzählung über die Nonne Beata, die einst unbekleidet das Bild des gekreuzigten Jesus küsste und dafür bei lebendigem Leib hinter dem Altar eingemauert wurde, steigert sich Schwester Susanna in eine mystische Trance. In ihrer Verblendung reißt sie das Lendentuch vom Kruzifix und sich selber die Kleider vom Leib. Von ihren Mitschwestern zur Beichte aufgefordert, verweigert sie diese und fordert stattdessen, dass man auch ihr eine Mauer errichte. „Satana!“ urteilen die Nonnen: Schwester Susanna sei des Teufels.
Musikalisch gehört Hindemiths Sancta Susanna zu den wegbereitenden Stücken der Moderne. Es ist Teil eines Triptychons, der in den frühen 1920er Jahren entstand und zu dem die Opern Mörder, Hoffnung der Frauen und das Nusch-Nuschi gehören. Der Komponist treibt in diesem Werk Harmonik und Tonalität bis an ihre Grenzen, trennt sich jedoch nicht vollständig von den alten Formen: Strukturgebend ist eine Reihe von Variationen, in denen nahezu alles, was musikalisch geschieht, aus einem einzigen Thema entwickelt wird. In asketischer Weise bildet er musikalisch die Zwänge und Einschränkungen hinter den Klostermauern ab. Das Aufkeimen von Susannas Sinnlichkeit kontrastiert mit weiten melodischen Bögen und Klangpracht. Hindemith selbst hielt Sancta Susanna für das gelungenste Werk des Triptychons und sein späterer nahezu uneingeschränkter Erfolg scheint ihm Recht zu geben.